04.09.2020

Themenreihe Corona

Autor*in

Michael Wimmer
ist Gründer von EDUCULT und war bis zu seinem Ruhestand Direktor und Vorstandsvorsitzender dieses Forschungsinstituts, Aus diesen Tätigkeiten sowie als langjähriger Geschäftsführer des Österreichischen Kulturservice (ÖKS), als Musikerzieher und Politikwissenschaftler bringt er umfassende Erfahrungen in die Zusammenarbeit von Kunst, Kultur und Bildung ein. 
Der Blick in die Realität

Kultur sichern statt entwickeln?!

Die Geschehnisse der letzten Wochen waren kein Auslöser für eine Krise im Kulturbetrieb. Sie haben eher die schon seit Jahren gärenden Fehlstellen unter das Brennglas gebracht und zerstört damit die falschen Hoffnungen auf die Rückkehr in eine Normalität, die es nie gegeben hat.

Themenreihe Corona

Aktuell bahnen sich die Umrisse eines kulturpolitischen Desasters an, das weite Teile des Kulturbetriebs in den Ruin zu reißen droht. Da sind zum einen die materiellen Konsequenzen in Form von Einnahmenausfällen angesichts der erzwungenen Schließung des Betriebs. Als mindestens ebenso bedrohlich aber werden die symbolischen Konsequenzen empfunden. Ausgerechnet in der "Kulturnation" Österreich - ebenso wie in Deutschland - fand sich der Kulturbetrieb rasch am Ende einer Anspruchsleiter wieder, auf der sich andere Wirtschaftszweige in der Öffentlichkeit wesentlich besser Gehör zu verschaffen vermochten. Und das erklärt den tiefen Frust in der Szene, begleitet von der Klage über eine ungerechte Behandlung. 
 
Vorwärts oder zurück in die guten alten Zeiten 
 
Aktuell wächst die Hoffnung, früher oder später wieder zur Normalität im Kulturbetrieb zurückkehren zu können. Diese könnte sich allerdings als verfrüht und als gefährlicher Bumerang erweisen, der à la longue mehr Schaden anrichtet als die zeitlich beschränkten Zwangsmaßnahmen. 
 
Schon bald nach Ausbruch der Krise zeigten sich innerhalb der Szene ganz unterschiedliche Lösungsstrategien: Da waren zum einen diejenigen, die auf Teufel komm heraus versuchten, ihr bestehendes Programmangebot in den digitalen Raum zu verlagern, um so im Kontakt mit ihrem Publikum zu bleiben. Ein anderer Teil sagte alle Programme ab und wartet seither auf weitere staatliche Vorgaben. Ein dritter stimmgewaltiger Teil behauptete sich trotzig und erzwang, das scheinbar Unmögliche doch möglich zu machen (so fanden im Unterschied zu den meisten Sommerfestivals die Salzburger Festspiele in abgeschlankter Form statt). 
 
Und dann war und ist da noch eine kleine Gruppe, die die Krise als eine Aufforderung begreift, den Kulturbetrieb neu zu erfinden, das bisherige Programmangebot radikal infrage zu stellen, mit neuen Interaktionsformen zwischen Produzent*innen und Publikum zu experimentieren, sich in der Zivilgesellschaft auf die Suche nach Kooperationspartner*innen zu machen oder neue Formate an der Schnittstelle von real und digital zu entwickeln. Ihr Ziel ist die glaubwürdige Behauptung einer ungebrochenen Relevanz des Kunstschaffens in einer im Umbruch befindlichen Gesellschaft (ein gutes Beispiel ist dafür die styriarte, ein regionales steirisches Festival, das mit der Behauptung seines Intendanten "Wir sind nicht da zum Jammern" seine Programmstruktur völlig umgestellt hat). 
 
In der Bewältigung der Krise ist die österreichische Kulturstaatssekretärin auf einen seit Langem bestehenden strukturellen Mangel verwiesen, der jetzt seine verstörende Wirkung zeigt und sich verstärkt: das Fehlen jeglicher konzeptioneller Grundlagen. In der Zwischenzeit hofft sie, das Vertrauen der Künstler*innen wieder gewinnen zu können, indem sie sich als "oberste Lobbyistin für den Bereich" geriert. 
 
Schon bald aber wird auch sie sich einem weitgehend selbstreferentiellen, gerne manisch-depressiv argumentierenden Kulturbetrieb gegenübersehen, der sich von politischen Vorgaben zuallererst in seiner Freiheit bedroht sieht, um stattdessen auf bewährte Umgangsformen, die allesamt durch ein hohes Ausmaß an Personalisierung und Informalität geprägt sind, zu setzen. 
 
Die unerwartete Rückkehr des Staats 
 
Gesamtgesellschaftlich erleben wir die Rückkehr des Staats, der sich mit dem Slogan "Koste, was es wolle" scheinbar mühelos über die Kräfte des Marktes erhebt. Dabei hat es noch vor kurzer Zeit zum guten Ton liberaler Kulturpolitik gehört, möglichst weite Teile des Kulturbetriebs den Erfolgskriterien des Marktes zu überantworten. Die Folgen zeigen sich jetzt anhand eines existenzbedrohenden Wegbrechens der Einnahmen, inhaltlich an einem Utopieverlust bzw. an einer den Betrieb dominierenden resignativen Haltung. Kein Wunder also, dass die Kräfte, die jetzt nach "Kultursicherung" anstatt einer Beschleunigung von "Kulturentwicklung" rufen, nach wie vor den Diskurs bestimmen.
 
Die Liste an Problemen ist lang: Kaum ein anderer gesellschaftlicher Bereich leistet sich - mit dem Anspruch künstlerischer Autonomie legitimiert - ein derartiges Ausmaß an sozialer Ungleichheit. Zugleich ist die vielfältige Kulturszene, die heute niemand mehr auch nur annähernd zu überblicken vermag, in besonderer Weise bedroht. Das Feedback auf die bislang aufgelegten Hilfsmaßnahmen lassen entsprechend darauf schließen, dass sie das bestehende soziale Gap weiter vertiefen werden. 
 
Zur vollen Sichtbarkeit kommt in diesen Tagen auch das große Ungleichgewicht zwischen dem politischen Willen zur Gestaltung und Aufrechterhaltung gigantomanischer Kulturprojekte wie etwa dem Humboldt-Forum in Berlin und dem mühsamen Überlebenskampf weiter Teile der freien Kunst- und Kulturszene. Dieser kulturpolitische Skandal, der den Kulturbetrieb zu einem gesamtgesellschaftlichen Beispiel von Bad Practice im Bereich der Arbeitsorganisation macht, hat die Konkurrenzverhältnisse der Akteur*innen auch untereinander verschärft. Dabei weitgehend auf der Strecke geblieben ist ein solidarisches Grundverständnis, das von einem bösen Hauen und Stechen im Kampf um persönliche Vorteile abgelöst worden ist. 
 
Ein Kulturbetrieb, der sich über die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen erhaben weiß 
 
In diesem Zusammenhang ist auch die Kontinuität diktatorischer Machtansprüche vieler künstlerischer Leitungen zu sehen, die durch den kulturmanagerialen Diskurs der letzten Jahre nur unzureichend infrage gestellt werden konnte. Ein ähnliches, ausschließlich auf die eigene Profilierung bedachtes Führungsverhalten wäre heute in allen anderen Wirtschaftszweigen undenkbar. Dass weibliche Beschäftigte ungebrochen über männliche Diskriminierung klagen, stellt dabei fast schon einen Nebenschauplatz dar. Ungewollt deutlich zeigen sich mit seiner temporären Schließung zudem die ökologisch negativen Auswirkungen des Kulturbetriebs, der mit seinem exzessiven Tourneewesen einen unverhältnismäßigen ökologischen Fußabdruck hinterlässt. Diese Form der strukturellen Bewusstlosigkeit straft alle Selbstbeschreibungen, der Kulturbetrieb verstünde sich in innovativer und kreativer Weise als Vorreiter gesellschaftlicher Entwicklungen, unmittelbar Lügen. 
 
Die lauten Wortführer*innen im Kampf um weitere staatliche Fördermittel lassen immer weniger vergessen machen, dass das Gros staatlicher Mittel nach wie vor vorrangig dem kulturellen Konsumverhalten eines wohlsituierten Mittelstands zugutekommt. Als größtenteils der älteren Generation zugehörig, wird sich diese Risikogruppe auf absehbare Zeit zweimal überlegen, sich der Gefahr des engen physischen Miteinanderseins in geschlossenen Veranstaltungsräumen auszusetzen. All diejenigen hingegen, die nicht erst in der aktuellen Krise einen täglichen Kampf ums Überleben führen müssen, fühlen sich, wenn sie die Behauptung überhaupt zur Kenntnis nehmen, zunehmend vom kultursichernden Anspruch einer ansonsten weitgehend selbstreferentiell agierenden Kulturszene bestenfalls negativ provoziert. 
 
Tropfen auf den heißen Stein 
 
"Wer schnell hilft, hilft doppelt" hieß die einzig mögliche kulturpolitische Losung nach dem Ausbruch der Pandemie. Für allfällige Schwerpunktbildungen zugunsten einer Strategie für die Zeit nach der Krise blieb da keine Zeit. Dabei zu berücksichtigen ist eine unübersichtliche föderale Verwaltungsstruktur sowohl in Deutschland als auch in Österreich, die gemeinsame Lösungen, etwa im Bereich der Wiedereröffnung, erschwert. 
 
Die Kehrseite dieser Entwicklung liegt in der Erwartung eklatanter finanzieller Probleme vieler Länder und Gemeinden. Taten sich zuvor schon Kommunen schwer, ihre kulturelle Infrastruktur aufrecht zu erhalten, so ist zu erwarten, dass sich diesbezügliche Schwierigkeiten nach Aufheben des Lockdowns weiter zuspitzen werden. Diese werden von privaten Sponsoren nicht mehr aufgefangen werden können. 
 
Diese Charakteristika des Kulturbetriebs lassen ihn als einen Akteur erkennen, der nach all den Jahren der strukturellen Beharrung für die Bewältigung dieser Krise äußert schlecht gerüstet erscheint. Vieles spricht also dafür, dass sich der Sektor noch längere Zeit in schmerzvoller Weise mit den Konsequenzen dieser Umbruchsphase (die freilich bereits lange vor Corona begonnen hat) auseinandersetzen wird müssen.
 
Der Verlust eines Kulturbetriebs, der gesellschaftspolitisch Stellung bezieht 
 
Als hilfreich bei der Bewältigung könnte sich die Wiederaufnahme eines breit gefassten kulturpolitischen Diskurses sein, der sich nicht auf Wahrnehmung auf Bestandsinteressen beschränkt. Zur Disposition steht eine Neuverortung des Kulturbetriebs im gesellschaftlichen Gefüge, um dort seine ungebrochene Relevanz unter Beweis zu stellen. Auf pragmatischer Ebene zeigt sich unschwer, dass es umfassender Neuverhandlungen der arbeits- und sozialrechtlichen Grundlagen im Kulturbereich bedarf. 
 
Die ungenutzten Potentiale der Kooperation 
 
Ein Schlüsselbegriff künftiger Entwicklungsszenarien könnte der Begriff der Kooperation darstellen, ein neues Miteinander von Vertreter*innen unterschiedlicher Kunstsparten, deren Trennung im Rezeptionsverhalten des Publikums schon lange nicht mehr die kategoriale Bedeutung hat, die angesichts der institutionellen Erstarrung suggeriert wird. Dazu gehört auch die Öffnung der traditionellen kulturellen Infrastruktur gegenüber freien Initiativen, um sich gegenseitig zu ergänzen und zu unterstützen. Als überlebenssichernd könnte sich zudem die engere Anbindung des Kulturbetriebs an andere Akteur*innen der Zivilgesellschaft erweisen, um eine "kritische Masse" zur Durchsetzung wichtiger gesellschaftspolitischer Anliegen zu erzielen. Und schließlich muss es um ein neues Miteinander zwischen Kulturproduzent*innen und Rezipient*innen gehen, um überkommende Trennungen zwischen "Kulturschaffenden" und ihrem Publikum zu überwinden. 
 
Digitalisierung ist kein nettes Add-on sondern Ausdruck eines Epochenbruchs 
 
Ja, und dann ist da noch der Aspekt der Digitalisierung, von dem der Kulturbetrieb bisher gemeint hat, er beträfe alle Lebens- und Arbeitsbereiche der Menschen, nur nicht ihn selbst. Dieses Bestehen auf die Körperlichkeit von Kunstwahrnehmung könnte sich insofern schon bald als ein Trugschluss erweisen, als zur Zeit ein umfassender kultureller Lernprozess stattfindet, der die Trennung von realer und digital vermittelter Welt obsolet macht. Ähnlich wie im Bereich der "alten" Medien werden sich Kultureinrichtungen zunehmend unter dem Druck wieder finden, ihre Stellung als "Türhüter" kultureller Inhalte begründen zu müssen und den ungehinderten Zugang zu digitalen Kulturräumen zu ermöglichen. 
 
Eine weitere nachhaltige Konsequenz könnte sich aus der Außerkraft-Setzung des Baumolschen Gesetzes ergeben, wonach sich im Kulturbereich keine Produktivitätsgewinne erzielen ließen. Mit einem Einsatz digitaler Formate richtet sich das Programmangebot an eine unlimitierte Anzahl an Rezipient*innen. Diese machen sich souverän bei der Wahrnehmung ihrer kulturellen Vorlieben, wo, wann und mit wem auch immer. Umso wichtiger erscheint gerade jetzt die Notwendigkeit für den Kulturbetrieb, sich an der Schnittstelle zwischen real und digital in überzeugender Weise mit der Neuentwicklung überzeugender Formate neu zu positionieren. 
 
Für all diese Herausforderungen scheint die seit den 1970er Jahren sukzessive entstandene Praxis staatlicher Kunst- und Kulturförderung nicht gerüstet. Vieles läuft auf den Bedarf einer weitgehenden Neuerfindung der Kunst- und Kulturverwaltung hinaus, die künftig um die Entwicklung von Orientierung gebender Schwerpunkte nicht herumkommen wird. Hilfestellung dabei könnte ihr eine bislang weitgehend vernachlässigte Kulturpolitikforschung geben, die mit der Erstellung und Interpretation von Daten die Grundlage für eine neue Qualität von "Evidence Based Policy" bereit zu stellen vermag. 
 
Eine ungebrochene Kraft, die in einer Kunst liegt, die sich dem System verweigert 
 
Weite Teile des Kulturbetriebs haben zuletzt eine defensive Haltung, die sich die Lösung ihrer Probleme vor allem von den Vertreter*innen eben dieses problematischen Systems erwartet. Jedoch beschränkt sich das Leitmedium des Kulturbetriebs, die Kunst, nicht darauf, das System zu stabilisieren, sondern es zu irritieren und infrage zu stellen. Das zur Seite zu schieben, würde entweder bedeuten, die Kontinuitäten eines an den gesellschaftlich an den Rand geratenen Kulturbetriebs nicht sehen zu wollen. Oder aber das, um was es - angeblich - im Kulturbetrieb eigentlich geht, die herausragende Erkenntnisform Kunst, schlicht für irrelevant für die Verhandlung des Status quo des gesellschaftlichen Miteinanders zu erklären. 
 
Gerade in dieser verunsicherten Zeit könnte sich die "Nichtsnutzigkeit" der Kunst als eine besondere Qualität erweisen, wenn es darum geht, die Tür zu bislang unvorstellbarer Möglichkeitsräume aufzustoßen. Dass wäre auch die Voraussetzung dafür, der Kulturpolitik die gebührende Relevanz zu verleihen, um den Sektor ins Zentrum gesellschaftlicher Entwicklung zu führen. 
 
Dieser Beitrag erschien in ausführlicher Form zuerst im Kultur Management Network Magazin "Blick zurück nach vorn"

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