11.09.2020
Themenreihe Corona
Autor*in
Julian Stahl
promoviert am WÜRTH Chair of Cultural Production an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen zu den Schnittstellen von Organisationstheorie und Kulturmanagement. Darüber hinaus verantwortet er seit 2016 den Digitalbereich PODIUM.Digital von PODIUM Esslingen und ist Host des PODIUM Podcasts. Nach dem Kulturmanagement-Studium war er Co-Founder von HENRY, einer digitalen Experimentalplattform für zeitgenössische Kunstmusik.
Neuer Kurs des Kulturbetriebs
Bloß nicht zurück zur Normalität!
Die Corona-Pandemie hat die meisten Selbstverständlichkeiten im Kulturbereich auf den Kopf gestellt. Für Julian Stahl die beste Gelegenheit, endlich eine Neuorientierung des Kulturbetriebs zu wagen. Ein Kommentar.
Themenreihe Corona
Theater und Museen, Konzerthäuser und Kulturzentren leben von Präsenz, Nähe, Diskurs und Austausch. Umso einschneidender sind die letzten Wochen und Monate, in denen all das, wofür so viele Menschen im Kulturbereich arbeiten, infrage gestellt wird. Und daran gibt es nichts schönzureden. All die Rufe nach Entschleunigung und den Chancen der Krise muss man sich erstmal leisten können. Genauso gut zu hören, sind Stimmen, die eine schnelle Rückkehr zur Normalität fordern. Raus aus dem Ausnahmezustand, zurück zur stabilen Vor-Krisen-Normalität. Das ist verständlich und die langen Wartelisten bei den langsam wieder öffnenden Museen und Theatern zeigt die Sehnsucht nach kulturellen Angeboten. Aber was, wenn wir für einen kurzen Moment die Ausnahmesituation nutzen, um danach zu fragen, von welcher Normalität wir eigentlich ausgehen?
Jetzt ist der Zeitpunkt, um die Pandemie zum Anlass zu nehmen und danach zu fragen, welche Probleme auch vorher schon bestanden haben, die jetzt nur noch deutlicher hervortreten. Die Vor-Krisen-Normalität war bei Weitem nicht so stabil, wie es scheint. Nur hatten es sich viele Kulturorganisationen ganz gemütlich in ihren Routinen eingerichtet. Die Welt und unsere Gesellschaft waren schon vorher voller Dynamik, Veränderung und Unsicherheit. Die großen Themen unserer Zeit lagen zu oft im Schatten des Arbeitsalltags. Faire Zusammenarbeit, Diversität, Klimawandel, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, gesellschaftlicher Zusammenhalt - konsequent darüber gestritten und gehandelt wird bisher nur in wenigen Kulturorganisationen. Dabei ist eines sicher: Die Pandemie wird über kurz oder lang enden, die anderen großen Herausforderungen werden uns weiter begleiten.
Neu orientieren - nicht zurück in alte Muster
Die Pandemie hat kurzerhand die meisten Selbstverständlichkeiten im Kulturbereich zur Seite gewischt. Innerhalb weniger Tage wurden Bühnen gesperrt, Konzerte abgesagt, Museen und Musikschulen geschlossen. Gleichzeitig wurden mehr Aktivitäten denn je ins Digitale verlagert und Zusammenarbeit neu organisiert. Wandel - im Schlechten wie im Guten - ist plötzlich hoch präsent und unumgänglich. Veränderung wird möglich. Entscheidend wird jetzt sein, wie Organisationen, Führungskräfte und Mitarbeiter*innen, mit dieser Erkenntnis umgehen. Eine Rückkehr zur vermeintlichen Vor-Krisen-Normalität kann nicht der richtige Weg sein, die unsichere Zukunft wird bleiben. Vielmehr ist jetzt der richtige Zeitpunkt die eigene Position neu zu bestimmen. Oder mit den Worten des französischen Philosophen Bruno Latour: "We should not miss the chance of doing something else."
Diese Chance zu ergreifen beginnt damit, sich einzugestehen, dass die Lage unübersichtlich ist und bleibt. Dabei besteht die Gefahr, dass sich klassisch-heroische Führungsfiguren in den Vordergrund drängen. Die Bühne ist wie gemacht dafür leichtfertig Orientierung und Handlungsfähigkeit zu versprechen. Natürlich kann schnelles und entschiedenes Handeln nötig sein, aber ebenso liegt die Vermutung nahe, dass die Motivation der alternativlosen Entscheidung eher darin begründet liegt, bestehende Machtstrukturen schnell wieder festzuzurren.
Offenheit und Partizipation
Lasst uns der Krise dadurch etwas Gutes abringen, dass wir innehalten und zuhören. Ehrlich zuhören, ohne vorher schon die Antworten zu kennen. Was braucht es, um auf die Probleme zu reagieren, die unter dem Brennglas der Krise noch deutlicher werden? Welche Antworten lassen sich auf eine Welt im Wandel finden?
Das Zuhören beginnt bei uns selbst, in unserer Organisation: Welches Selbstverständnis prägt die Zusammenarbeit? Wo dienen Strukturen bisher
vor allem dem Machterhalt? Welche Stimmen sind nicht hörbar - sei es, weil sie keinen Raum bekommen oder gar nicht erst in der Organisation zu finden sind? Wie kann um eine geteilte Haltung transparent gerungen werden? Welches Führungsverständnis braucht es für einen solchen Wandel? Welche Ideen für eine unsichere Zukunft können entwickelt werden?
Das ehrliche Zuhören hört nicht an den Grenzen unserer Organisation auf. Die großen Herausforderungen unserer Zeit lassen sich nicht alleine in Angriff nehmen. Welche neuen Bündnisse können geformt werden, in denen Erfolge und Misserfolge geteilt und diskutiert werden? Wo wissen Expert*innen mehr? Mit wem statt über wen sollten wir reden? Wo stößt das eigene Verständnis an Grenzen und wie kann dort trotzdem das Zuhören und der Austausch möglich werden?
Der Veränderungsprozess wird nicht einfach werden, gerade für Führungskräfte entstehen vielfältige, teilweise widersprüchliche Anforderungen: Offenheit fördern, Unsicherheit aushalten, neue Methoden und Führungsansätze lernen und gleichzeitig nachvollziehbare Entscheidungen treffen, die den Mitarbeiter*innen Orientierung geben. Bei einfachen Antworten ist dabei eine gehörige Portion Misstrauen angesagt. Aber eines wird durch die Pandemie deutlich: Veränderung ist möglich. Wenn wir sie wollen.
Dieser Kommentar erschien in ausführlicher Form zuerst im Kultur Management Network Magazin "Blick zurück nach vorn"
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