Trendforschung
Wer verändert die Gesellschaft? Finanzen oder Kultur?
"Warum sollten sie pünktlich zum Konzert erscheinen?", fragen die unter 30-Jährigen die Trendforscherin Hedi Pottag. Im Kino komme erst einmal Werbung, bevor es losgeht und wenn man was verpasse, könne man es sich hinterher digital beschaffen.
Dass ein Sinfoniekonzert life ist und einen nicht wiederholbaren emotionalen Wert hat, müsse manch einem erst erklärt werden, so Pottag. Auch zwei Stunden lang nicht twittern oder SMS senden zu können, scheint jüngeres Publikum davor abzuschrecken, in die Oper zu gehen. Was heißt das für die Kunstschaffenden? Auf dem Symposium "Denkfabrik" in Graz suchte man neue Wege für die Konzeption und Finanzierung von Kulturveranstaltungen. Pottag hat eine mögliche Antwort gefunden: "Piano-City Berlin". Über 70 Pianisten Laien und Profis spielen zwei Tage lang in Berlin in ihren Wohnzimmern für ein Publikum, das durch die Stadt tingelt. Es zählt weder das gespielte Werk, noch das Können des Pianisten, sondern die ganz persönliche Werbung des Künstlers im Voraus über ein Internet-Videoclip und das wohnzimmerliche Ambiente. Überhaupt scheint es ein Trend zu sein, es sich Zuhause gemütlich zu machen mit Freunden oder mit digitaler Unterhaltung. Richtig erfolgreich ist hier das "digital concert", also die vorab bezahlte Life-Übertragung der Konzerte der Berliner Philharmoniker auf den heimischen Bildschirm. Da wird sogar ein traditionelles Sinfonieorchester zur coolen Marke. Davon möchte man sich eine Scheibe abschneiden: Wie könnte man die Preisträger von Jugend musiziert, also jene, die wirklich viel Zeit und Energie in ihr Hobby Musik stecken, mit einem coolen Image versehen? Jeder noch so verschrobene, unsoziale "Sonderling" ist cool, warum nicht ein toller Pianist?
Aufruf zur Risikobereitschaft
Apropos schräge Typen: Steffen Huck, Direktor am Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, bringt sie ins Spiel, um die Risikobereitschaft unter den Künstlern anzufachen. Denn, so Huck, "es gibt in unserer Gesellschaft immer mehr Menschen mit großem Kapital, die riskieren wollen". Ganz sicher in Bankgeschäfte. Warum nicht auch in kulturelle Projekte? Hucks Beispiele sind Mike Milken, der mit junkbonds (Schrottanleihen) nicht nur zu Millionen kam, sondern auch ins Gefängnis, und Aaron Sorkin, der es kokainsüchtig, ohne Talent, aber mit Genie in den USA mit dem Drehbuch zu The Social Network zum Oscar brachte. Huck will irritieren mit seinem Aufruf zur Risikobereitschaft und der Wiener Kulturberater Christian Henner-Fehr stellt passend dazu das Crowdfunding vor Sponsorensuche über social media (Soziale Netzwerke). Vorwiegend wird es von jungen Unternehmen genutzt. Die Kultur sei bis auf kleinere Projekte noch nicht auf diesen Zug aufgesprungen. Wie funktioniert Crowdfunding? Man stellt seine Idee z.B. auf das Portal www.startnext.de und hofft auf eine Menge Menschen (engl. Crowd=Menge), die bereit ist, sich von dem Projekt begeistern zu lassen und Geld zu überweisen. Vorab wird bestimmt, welche Summe eingehen muss, damit das Projekt gestartet wird und welchen "Gewinn" der Sponsor haben wird sei es eine Gratis-CD nach der Studio-Produktion, eine Eintrittskarte fürs finanzierte Konzert oder eben nur die Gewissheit, sich an einem guten Werk beteiligt zu haben. "Der Spaßfaktor ist beim Crowdfunding extrem wichtig", so Henner-Fehr, die Nähe zum Erfolg, der Stolz, etwas bewegt zu haben. 90 Tage solle man ansetzen für eine solche Werbe-Kampagne, so Henner-Fehr. Voraussetzung ist allerdings, dass bereits ein gut ausgebautes Netzwerk in allen social media besteht und gepflegt wird: twitter, facebook, linkedin, blogs. "Steuerrechtlich bewegt sich das noch in einer Grauzone", so Henner-Fehr. "Mal sehen, was passiert, wenn der Erste mit dem eingetriebenen Geld in der Karibik verschwindet", schmunzelt er.
Kapital der Kulturschaffenden werde zu wenig genutzt
Unternehmensberater Lutz Hempel bringt die volkswirtschaftlichen Fakten. Am Beispiel des Grazer Stadtmuseums, das sich hat evaluieren lassen, wird klar: "Die Hälfte des öffentlichen Mitteleinsatzes kommt wieder zurück" und eine Umfrage in der Bevölkerung ergab, dass Graz für 80% der Befragten eine hohe Lebensqualität bietet. "Da war die Kultur ein positiver Standortfaktor", so Hempel. Ganz zu schweigen von dem soziokulturellen Gewinn, den Kultur hervorbringt: Emotionen, Genuss, Faszination, kognitives Wachstum und Bindungsfähigkeit. Dieses Kapital der Kulturschaffenden werde noch viel zu wenig genutzt, so Hempel, und in den realpolitischen Finanzdebatten als ernstzunehmende Größen gehandelt. Anstelle "noch ein Feuerwerk abzufackeln", wenn Kürzungen ins Haus stehen, um mit Extraleistungen die Wichtigkeit des Kunstbetriebs hervorzuheben, solle man eher den Bestand ins rechte Licht rücken. Statt sich nur in die Kosten-/Nutzenabrechnung pressen zu lassen, lieber lebensnahe Erfolgs-Geschichten aus der laufenden Produktion erzählen. Davon hat auch Intendant Bernhard Kerres etwas auf Lager: Am Wiener Konzerthaus konnte die Zahl der Sponsoren verdreifacht werden und zwar übers Singen. Die Volksbank sponsort Konzerte für junge Künstler und bekommt als Dankeschön den Saal des Konzerthauses für die Proben des betriebseigenen Chores zur Verfügung gestellt. Kerres macht Mut zur "Guerilla-Taktik". Das heißt erstens: träge Bürokratien umgehen und direkt vor Ort für Begeisterte sorgen. Zweitens hieß das bei ihm ganz konkret: Das Konzerthaus brachte das tägliche Singen in Kooperation mit den Lehrern in die Schule und bewies: "Nach der Chorstunde können die Kinder besser Mathe" und dann wurde das Projekt auch nachträglich genehmigt.
"Finanzen steuern massiv, was kulturell bei uns passiert"
Wer verändert also die Gesellschaft? Finanzen oder Kultur? Christoph Thoma, Intendant der Grazer Spielstätten, muss nicht lange überlegen: "Finanzen steuern massiv, was kulturell bei uns passiert". Ingrid Allwardt, Geschäftsführerin des "netzwerk junge ohren" sieht jenen Moment kommen, wo der Mensch durch die schnelle Taktung des Informationsflusses überfordert sein wird und sich wieder nach Konzentration auf das Wichtige sehnt: Auf das Life-Erlebnis von Musik.
Weitere Informationen:
Der Beitrag erscheint in Kooperation mit der Zeitschrift "das Orchester": www.dasorchester.de
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