12.01.2024

Autor*in

Gernot Wolfram
ist Professor für Kultur- und Medienmanagement an der Macromedia University Berlin und lehrt seit 2015 als Gastdozent an der Universität Basel im Studiengang MAS Kulturmanagement sowie als Gastprofessor für Cultural Studies an der Fachhochschule Kufstein/Tirol. Zudem hält er an der Bundeszentrale für politische Bildung in Berlin regelmäßig Vorträge zu Themen der Medienbildung und Kulturellen Bildung.
Schutzorte in der Polykrise

Müssen Kulturbetriebe in viel stärkerem Maße zu demokratischen Plätzen werden?

Das Konzept des Dritten Ortes ist im Kulturbetrieb bereits bekannt und wird erprobt. In Krisenzeiten wie den aktuellen könnten Kultureinrichtungen jedoch auch zu "demokratischen Schutzorten" werden. Was es dafür braucht und welche Rolle dabei insbesondere kleinere Kulturbetriebe spielen, betrachtet dieser Beitrag.
Sekundenschnelle Demokratie auf Social Media
 
Kürzlich fragte mich eine Studentin nach einem Seminar über Kultur und Demokratie, ob sie ihre Hausarbeit über demokratische Beteiligungsformen auf Social-Media-Kanälen schreiben könne. Ich bat sie, mir zu erklären, was sie genau meine, weil mir der Ansatz nicht sofort klar war. "Mit demokratischen Modellen auf Social -Media-Plattformen meine ich z.B. die Funktion einer Umfrage/Abstimmung z.B. auf Instagram, algorithmische Transparenz wie TikTok und Community Moderation (also Discord)", antwortete sie.
 
Das sind naheliegende, vertraute Assoziationen zum Thema demokratische Beteiligung. Praktisch, unmittelbar, von keinem Theorieballast, keiner historischen Erinnerung umstellt. Ein einfacher Umgang mit Beteiligungsinstrumenten, der etwas wunderbar Unkompliziertes mit sich bringt. Konkrete Teilhabe mit einem Klick. Gerechtigkeit der Meinungen in einer sekundenschnell erstellten Skala durch Mentimeter-Umfragen, SMS-Stimmungsbilder oder rasch erweiterte WhatsApp-Gruppen. Diese Praxis ist mittlerweile Allgemeingut, natürlich nicht nur der jungen Generation. 
 
Daher lässt sich für das Kulturmanagement fragen: 
 
  • Welche Formen der unmittelbaren demokratischen Teilhabe bieten eigentlich Kulturbetriebe? 
  • Verfügen sie über ausreichend Optionen der eigenen Meinungsäußerung jenseits des kollektiven Beifallspendens? 
  • Ermöglichen sie Beteiligung als Erlebnis, gar als selbstbestimmtes Recht oder als Form des Widerstands? 
  • Zugleich stellt sich die Frage: Müssen Kulturbetriebe überhaupt demokratische Angebote machen? 
Demokratiefähigkeit von Kulturinstitutionen
 
Es scheint in der Tat im Kulturbereich geboten zu sein, stärker über die Demokratiefähigkeit von Kulturstätten nachzudenken. Vor allem angesichts des zunehmenden Populismus‘ und besorgniserregender Umfrageergebnisse[1] in der Bevölkerung, die Stimmungsbilder hervorbringen wie: man dürfe seine Meinung nicht mehr frei äußern, bestimmte Bevölkerungsgruppen würden anderen bevorzugt und die öffentlichen Diskurse seien von mächtigen Kräften manipuliert. 
 
Ansätze, das Publikum über das Programm abstimmen zu lassen, hat es immer wieder gegeben. Wie sieht es aber mit einer unmittelbaren Beteiligung aus? 
 
Die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf probiert gerade ein digitales Tool aus, bei dem das Publikum im "Digitalen Foyer"[2] der Oper rasch und unkompliziert die eigenen Gefühle mitteilen kann. Unter der Überschrift "Räume der Begegnung im Theater der Zukunft"[3] und gefördert im Fonds Digital der Kulturstiftung des Bundes werden verschiedene Modelle der Zuschauerbeteiligung ausprobiert. 
 
So gibt es mit dem "Digitalen Gästebuch" eine Installation vor Ort, die direkt im Foyer zur Interaktion anregen soll: "Ein Ort für die Stimme und das Wohlbefinden des Publikums, die digitale Möglichkeit, vor, zwischen und nach einer besuchten Vorstellung Feedback zu geben - über Gestik und Mimik, über Regler und Dreher, über ein Stimmungsbarometer und andere spielerische Anwendungen. Der Begriff ‚Gästebuch‘ steht hierbei metaphorisch für eine niedrigschwellig zugängliche, intuitiv, barrierefrei bedienbare und mobile Installation im Foyer mit verschiedenen digitalen Funktionen und interaktiven Kommunikationsangeboten."[4] 
 
Jens Breder, Direktor Kommunikation und einer der Mitinitiatoren des Projektes, beschreibt den demokratischen Charakter des Projektes so: "Uns geht es darum, dass jeder Besucher, jede Besucherin, sich mitteilen und mit uns kommunizieren kann, ungeachtet von Repertoirekenntnissen, rhetorischen Fähigkeiten oder digitalen Kompetenzen. Denn ganz gleich, ob man einen Buzzer für das Stimmungsbarometer drückt, in den Emotion-Scanner lächelt, grient oder zürnt, oder aber über das Rote Telefon eine detaillierte Nachricht hinterlässt - in dieser spielerischen Umgebung zählt jede Stimme."[5]  
 
Auf der Ebene von künstlerischen Produktionen gibt es bereits zahlreiche Beispiele, bei denen das Publikum aufgefordert wird, sich zu beteiligen[6] an Abstimmungen teilzunehmen[7] und in das Geschehen auf der Bühne einzugreifen.[8]  
 
Wie demokratisch sind Kulturbetriebe organisiert?
 
Im Staatstheater Cottbus wird in dieser Spielzeit beispielsweise eine eigene Konzertreihe zum Thema "Demokratie" angeboten. Darin greift GMD Alexander Merzyn im Konzertprogramm das Thema Gemeinschaft und das Hinterfragen von Strukturen des Zusammenlebens auf. So werden die Auswirkungen von politischen Umständen auf Biografien und das musikalische Schaffen von Komponierenden wie Beethoven, Tan Dun, Dmitri Schostakowitsch oder Myroslav Skoryk thematisiert. Ebenso spannend ist der Blick auf die Entscheidungskompetenz des Publikums: Dieses kann im Vorfeld demokratisch über das Konzertprogramm abstimmen. Es werden "aber auch die eigenen Strukturen im Orchester und im Konzertleben (…) zum Thema gemacht", wie das Theater das Projekt selbst beschreibt.[9] Dass transparente, Machtmissbrauch ausschließende Organisationstrukturen im Kulturmanagement ein Thema auch für die Aufführungspraxis sein können, ist ein bemerkenswerter Ansatz. Man könnte diese Beteiligungsformen als demokratische Erlebnisse beschreiben. 
 
Des Weiteren gibt es in vielen Spielstätten Konzepte zu Demokratischen Dritten Orten nach dem berühmten theoretischen Entwurf von Ray Oldenburg.[10] Dabei handelt es sich etwa um Bibliotheken, Theater, Museen oder soziokulturelle Zentren, welche für Menschen unterschiedlicher Herkunft und sozialer Schichten offenstehen, keinen Konsumzwang ausüben und Gestaltungsmacht abgeben an jene, welche die Kulturstätte aufsuchen.[11]
  
In dieser Einteilung gibt es aber auch noch eine dritte Option, für die ich folgende Bezeichnung vorschlagen möchte: Kulturbetriebe als Shelter-Orte/Demokratische Schutzorte. Dies wären gesellschaftliche Aushandlungsorte mit einem kulturellen Schwerpunkt, an denen politische wie kulturelle Diskurse aufeinandertreffen und Menschen sich gehört und wahrgenommen fühlen, inspiriert von künstlerischen Ansätzen. 
 
Politik im freien Theater und Co.
 
Die Bundeszentrale für politische Bildung versucht beispielsweise temporär solche Shelter-Orte zu schaffen mit ihrem Theaterfestival "Politik im freien Theater". Seit vielen Jahren bemüht sich das Festival bereits, die inhaltliche Verbindung zwischen Kultur und Politik fruchtbar zu machen. Es hat dafür aber keinen festen Ort, da es alle drei Jahre in einer anderen Stadt stattfindet. 
 
Viele andere Theater, Opern, Museen und Kinos bieten darüber hinaus regelmäßig Gesprächsreihen, Vorträge und öffentliche Diskussionen zu gesellschaftspolitischen Themen an. Viele dieser Veranstaltungen haben jedoch immer noch einen statischen, wenig partizipativen Charakter: Dem Publikum kommt die Rolle des Zuhörers, Fragenstellers und Beifallgebers zu. Außerdem gibt es kaum ritualisierte Strukturen oder inspirierende Ideen, welche aktivere Rolle Besucher*innen einnehmen könnten. Dieses Problem aufzubrechen, scheint daher immer noch schwierig zu sein.
 
Welche Rolle haben die Zuschauer*innen der Zukunft?
 
Einige gescheiterte Experimente haben, zumindest in der medialen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung, dazu geführt, Mitbestimmungsrechte des Publikums eher kritisch zu sehen.[12] Dabei zeigt sich auch der große Bedarf, sich für neue Entscheidungs- und Beteiligungsstrukturen zu öffnen. Dafür könnten bestimmte Stellschrauben entscheidend sein. Maßgeblich sind dabei nicht nur willkürliche Mitmachangebote, sondern gut durchdachte Rollen und Formen der Beteiligung von mitdenkenden Individuen. 
 
Gut angelegt ist das etwa im Konzept der Neuen Auftraggeber. Ein Ansatz mit würdiger Rollenbeschreibung für jene, die sich Gehör verschaffen wollen: Bürger*innen können eine klare demokratische Rolle einnehmen, indem sie selbstständig Entscheidungsprozesse durchdenken und klassische Hierarchien der Kulturpolitik zurückweisen. 
 
Stattdessen können die Bürger*innen etwa einen Auftrag für ein neues Kunstwerk, eine Schule oder ein Museum in ihrer Stadt oder ihrem Dorf aus ihren Vorstellungen heraus formulieren. In Zusammenarbeit mit Kulturmanager*innen, Kurator*innen und politischen Akteur*innen, Stiftungen und Geldgebern werden anschließend gemeinsam Lösungen gesucht für die Umsetzung des geplanten Vorhabens. 
 
Beeindruckend ist dabei der strukturierte, ritualisierte Charakter dieses Ansatzes. Dieser fehlt häufig in vielen anderen kulturellen Institutionen, die ihrem Publikum scheinbar nur bedingt deutliche Handlungsrollen zugestehen wollen. Dabei dürfte das die Zukunft im Umgang mit mündigen Menschen sein. Der tägliche digitale Umgang mit den bereits genannten Abstimmungstools auf Social-Media-Kanälen sowie die schier unendlichen Entscheidungsoptionen, welche das Internet anbietet, führt zu einem Publikum, das vorbereitet und daran gewohnt ist, befragt und integriert zu werden. Der*die Einzelne fühlt sich wahrgenommen. Dort, wo diese Kompetenz von Kulturstätten unmittelbar angesprochen wird, zeigt sich, dass die Figur des Zuschauers eine höchst lebendige und an zur Demokratie befähigte Gestalt ist. 
 
Gibt es ein demokratiebegabtes Publikum?
 
Es lohnt sich daher im Kontext einer neuen Demokratisierung von Kulturbetrieben darüber nachzudenken, ob der Begriff des Zuschauers noch angemessen ist. Denn er stellt nur einen kleinen Teil des künstlerischen Rezeptionsprozesses in den Mittelpunkt: das Schauen
 
Das innerliche wie äußerliche Mitdenken, Reflektieren, Kritisieren und Unterstützen ist in diesem Begriff jedoch kaum zu spüren. Dabei macht dies seit der Aufklärung mündige Kulturrezipient*innen in starkem Maße aus: sich mit einer Meinung bemerkbar zu machen. Konsument*innen müssen sich entscheiden können: passiv Spaß und Unterhaltung zu erleben, was freilich auch eine vollkommen akzeptable, ehrenwerte Haltung ist. Oder eben aktiv zu werden, kritisch zu sein, nachzufragen, auf Basis der eigenen Möglichkeiten, auch ohne auf demselben Bildungsstand zu sein wie der Anspruch der Kulturinstitutionen.   
 
Weiterhin sind Zuschauer*innen immer auch Staatsbürger*innen. Selbst ohne den deutschen Pass sind sie mit den politischen Strukturen, Entscheidungen und Verfassungswerten konfrontiert, in deren Rahmen sich die künstlerischen Produktionen zeigen. Innerhalb einer Demokratie ist das besonders relevant, da dieses politische Modell auf der Beteiligung der Vielen aufbaut. Ralf Schlüter weist in diesem Zusammenhang auf die Mitgestaltungskraft der Besucher*innen hin: "Jeder Ort ist einzigartig und vielgestaltig (…) und lädt uns ein, zu Koproduzent*innen zu werden."[13] 
 
Die Last der Geschichte 
 
Das setzt voraus, dass Kulturinstitutionen diese demokratische Gabe der Koproduktion erkennen und weiterentwickeln. Das ist nicht immer einfach angesichts des Traditionsballastes, der auf ihnen liegt. Viele Gebäude der kulturellen Infrastruktur stammen aus feudalen Zeiten, sind historisch mit Kolonialismus oder dem Ungeist der Nazizeit kontaminiert oder mussten innerhalb der SED-Diktatur eine "demokratische" Kultur vorführen, die nichts anderes als ein Potemkinsches Dorf[14] war. Das hat den Begriff Demokratie in der Kultur historisch wie semantisch in Deutschland beschädigt. Diese historischen Einflüsse sollten innerhalb der hier vorgestellten Überlegungen immer kritisch mitgedacht werden. Sie können aber gerade wegen ihrer problematischen Implikationen auch Startpunkt für neue, aktuelle Fragen sein:       
 
  • Ist die Demokratiefähigkeit eines Ortes messbar? 
  • Können Kultureinrichtungen zu neuen Treffpunkten demokratischer Teilhabe werden? 
  • Hat die langjährige Konzentration auf Begriffe wie Partizipation, Öffnung und Integration zu kurz gegriffen, um diverse Stadt- und Landgesellschaften an kulturelle Stätten zu binden?
Hierauf gibt es sicher keine schnellen und eindeutigen Antworten. Entscheidend scheint mir viel mehr zu sein, dass diese Fragen überhaupt wieder in den Mittelpunkt rücken.  
Die Kräfte des neuen Populismus und Radikalismus
 
Angesichts von wachsendem Populismus, Antisemitismus, aber auch antimuslimischen Rassismus in der Gesellschaft zeigt sich, dass viele Kultureinrichtungen bislang nur in geringem Maße darauf vorbereitet sind, scheinbar unversöhnliche politische wie kulturbezogene Debatten für ihre Stätten produktiv werden zu lassen. 
 
Dabei ist es gerade kulturelle Arbeit, die innerhalb politischer Konfliktlinien andere Angebote machen kann. Man denke an Daniel Barenboims berühmtes israelisch-arabisches West-Eastern Divan Orchestra[15], das Theater von Augusto Boal[16], die Stücke von Dario Fo[17] oder die von Künstler*innen und Politiker*innen geführten Debatten zum Humboldtforum[18] in Berlin. Man denke an die kulturpolitischen Streitgespräche im Gorki Theater[19], die postkolonialen Diskurse im Berliner Haus der Kulturen der Welt[20] oder an den Documenta-Skandal[21]. 
 
All das sind herausragende Beispiele einer intensiven und keinesfalls konfliktfreien, häufig auch scheiternden gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Politik wird an diesen Orten breit und vielfältig aus unterschiedlichen Blickwinkeln verhandelt. Es zeigt sich dabei im besten Fall (und leider nur selten) die Kraft einer Gegenerzählung, die nichts Generelles im Konflikt löst, aber einen Perspektivwechsel anbietet. 
 
Die unterschätzten kleineren Kulturbetriebe
 
Häufig sind es die oben genannten prominenten Beispiele, die in der entsprechenden Forschungsliteratur auftauchen und intensiv besprochen werden. So wichtig sie als Best-Practice-Beispiele sind, so unvollständig sind sie zugleich. Es erscheint an der Zeit, in viel stärkerem Maße auf die vielen kleinen Kulturstätten in Deutschland zu blicken, welche durch ihr Engagement, ihr Programm und ihre Veranstaltungen eine kulturelle Infrastruktur bilden, in der demokratisches Handeln und Diskutieren überhaupt erst möglich wird - oft unter finanziell sehr prekären Umständen: Kleine Theater, Ausstellungsräume, Bibliotheken, Buchhandlungen und Kultursalons bieten Bürger*innen einen Anlaufort, um mit ihnen gemeinsam jenseits der Logik von Talkshows und Leitartikeln darüber nachzudenken, in welcher Gesellschaft sie leben und leben wollen.  
 
Stattdessen wird in diesem Zusammenhang bislang gern auf besonders problembeladene Beispiele eingegangen, wie etwa die Buchhandlung BuchHaus Loschwitz in Dresden. Geführt wird die Buchhandlung von der Verlegerin und Politikerin Susanne Dagens, die immer wieder durch Nähe zu rechtspopulistischen Positionen und Publikationen auffällt. Eine Kritik, die berechtigt ist angesichts der zum Teil fragwürdigen Diskussionen, die in ihrem Buchladen geführt werden, zum Teil mit einem merkwürdig-kruden, verschwörerischen Kulturverständnis. Man darf also sicher mit guten Gründen wachsam sein, was dort verhandelt wird.
 
Würde jedoch dem medialen Aufwand, mit dem Orte wie das BuchHaus Loschwitz kritisiert und untersucht werden, ein ähnlicher Aufwand gegenüberstehen, mit dem andere Buchhandlungen als Positivbeispiele genannt würden, wäre einiges gewonnen.[22] Ich spreche von jenen leider oft wenig bekannten Orten, an denen eine differenzierte, ausgewogene und vielfältige Auseinandersetzung mit Büchern, Themen und Politik stattfindet - abseits des populistischen Lärms. Diese vielen kleineren Kulturstätten leisten vor allem in ländlichen Regionen oder entlegeneren Stadtteilen eine vollkommen unterschätzte positive Arbeit. Sie erfahren in der Breite nur selten die mediale Aufmerksamkeit, die ihnen zukäme. 
 
Hilfreich könnte hier ein Atlas der Bundesrepublik Deutschland sein (im Übrigen ein lohnenswertes offenes Projekt), der diese neuralgischen kleineren Kulturorte kartografiert und ihre Bedeutung für die Demokratie in Deutschland herausarbeitet. 
 
Neue Ideen statt Untergangsszenarien
 
Durch eine Medienresonanzanalyse ließe sich zeigen, dass die Mehrzahl der Veranstaltungen, Lesungen, öffentlichen Debatten in deutschen Kulturinstitutionen auf einem inhaltlich sehr hohen Niveau ablaufen, sorgsam geplant sind und mit Verantwortung durchgeführt werden. Mag es allgemein an neuen einfallsreichen Demokratiekonzepten in deutschen Kulturbetrieben durchaus noch mangeln, so mangelt es doch keinesfalls an Bewusstsein für die Bedeutung differenzierender Darstellungsformen. 
 
Die ausschließliche Wiederholung der Behauptung, dass unsere Gesellschaft gespalten ist und auseinanderdriftet, gehört ebenso zu den destruktiven Krisenerzählungen wie die Konzentration auf Negativbeispiele innerhalb der Kulturszenen.[23] Vielleicht brauchen wir daher neue Ideen für die Etablierung von Erzählungen des Gelingens. Statt des "Instinkts der Negativität" bedarf es vielleicht eines "Instinkts der Positivität". 
 
Denn kulturelle Institutionen sind, wie es bei Patrick Föhl heißt, wichtige "Ankerorte"[24] in der gesellschaftlichen Gesamtstruktur. Sie zeigen Wurzeln unserer Vergangenheit, sind aber auch Seismografen der Zukunft, indem sie verschiedene Ideen, ästhetische Vorstellungen und Träume sowie untergründige, subkulturelle Diskurse aufgreifen. Inmitten von Polykrisen können sie ein Schutzort demokratischen Denkens sein, wenn sie den Demokratiediskurs nicht den Parteien und Medien überlassen. Stattdessen könnten sie selbstständig definieren, was sie unter Teilhabe, Gerechtigkeit, Vielfalt und Toleranz verstehen; was ihnen Menschenwürde und Frieden bedeutet in einer Zeit, in der diese Begriffe in atemberaubendem Tempo eine Umdeutung erfahren. 
 
Kunst statt Propaganda
 
Kulturelle Institutionen sollten nicht mit einer Spielart des "Instinkts der Negativität"[25] auf radikale politische Positionen vor allem aus dem rechten Spektrum antworten, indem sie lediglich "dagegen" sind und die Zustände beklagen. Sie könnten in viel stärkerem Maße zeigen, dass gute Kunst in liberalen Gesellschaften ein Stachel ist, ein unbequemer, aber einladender Raum, sich nicht mit dem Gegebenen zufriedenzustellen, sondern Aufbrüche zu wagen, gemeinsam zu denken und die Narrative von Hass, Ausgrenzung und Pseudo-Eindeutigkeiten als das zu entlarven was sie sind: autokratische und autoritäre Kommunikationsformen. 
 
Das bedeutet auch, dass Kulturinstitutionen nicht politisieren sollten; das führt meist zu propagandistischer Kunst. Auch dafür gibt es in Deutschland genügend Beispiele.
 
Sie können aber mutiger sein hinsichtlich der Erkundung von Meinungsvielfalt, Stimmungen, spontanen wie reflektierten Gedanken der Besucher*innen, die zu ihnen kommen. So wie der digitale Buzzer im Foyer der Deutschen Oper am Rhein: Er erlaubt eine unmittelbare Reaktion und bewegt sich doch in einem Raum des Spiels, in einem Kontext, der dafür sorgt, dass sich hier nicht plumpe Biertischlaune breit macht, sondern dass es um ein Interesse des Kulturbetriebs geht, mit den Gefühlen, Gedanken und Wahrnehmungen der Besucher*innen in Verbindung zu treten - über das binäre Prinzip Ticketkauf-Kulturgenuss hinaus. 
 
Solche Erprobungen weisen in die Zukunft.        
 
Publikum als intelligente Ko-Produzent*innen
 
Die Zuschauer*innen der Zukunft werden an den realen physischen Orten der Kultur Entsprechungen suchen zu den positiven Mitbestimmungserfahrungen, die sie aus der digitalen Sphäre kennen. Die große Frage wird sein, ob sie diese dann auch vorfinden werden. Denn während Bürger*innen im digitalen Raum bereits brillante Ko-Produzent*innen von Inhalten und Entscheidungsformationen sind, sind sie es überwiegend noch nicht in den Theatern, Museen, Bibliotheken und Festivals.
 
Ausgehend von der positiven Deutung, dass Menschen Demokratie dann genießen, wenn sie sich als aktiven Teil von ihr erleben können, bietet das Shelter-Konzept/Demokratische Schutzorte überraschende Potentiale. Das sollte gerade nach den Diskursen der Postmoderne, welche die Rezipient*innen so stark in den Vordergrund[26] gerückt haben, ein Hinweis sein, neue Beteiligungsformen auszuprobieren.
 
Dieser Beitrag erschien zuerst im freien Teil des Kultur Management Network Magazins Nr. 175: "Geschlechtergerechtigkeit".
 
Impressionen zu Shelter-Orten
 
 
Fußnoten
 
[1] Siehe dazu die Allensbach-Umfrage sowie die mediale Diskussion symptomatisch hier: https://www.deutschlandfunkkultur.de/allensbach-umfrage-zur-meinungsfreiheit-heute-gibt-es-100.html.
[2] Vgl. https://www.operamrhein.de/spielplan/a-z/das-digitale-foyer/; gefördert wird das Projekt im Fonds Digital der Kulturstiftung des Bundes.
[3] Ebenda.
[5] Originalzitat für diesen Text/Interview mit dem Autor, November 2023.
[6] Siehe zum Thema Teilhabe auch die Diskussion auf kulturmanagement.net. 
[7] Siehe exemplarisch Schauspiel Stuttgart
[8] Besonders bekannt wurde der gescheiterte Versuch am Thalia Theater in Hamburg, bei dem leider der grundsätzliche Gedanke hämisch in der Kritik zunichte gemacht wurde. Siehe exemplarisch hier: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/hamburger-theater-thalihaha-11573526.html.
[9] Vgl. Staatstheater Cottbus Spielzeit 23/24: https://www.staatstheater-cottbus.de/presse/spielzeit-23-24-pressematerial/.
[10] Oldenburg, Ray (1989): The Great Good Place. Cafés, Coffee Shops, Bookstores, Bars, Hair Salons, and other Hangouts at the Heart Community. Marlowe & Company, New York 1999 (Erstausgabe 1989).
[11] Vgl. Wolfram, Gernot (2019/23): Dritte Orte, andere Menschen?, https://www.kiwit.org/kultur-oeffnet-welten/positionen/position_10816.html.
[13] Schlüter, Ralf (Mai 2023): Studio Other Spaces - Design als Kollaboration. In: Baumeister. Das Architekturmagazin.120. Jahrgang
[17] Ortolani, Olivier (1985): Dario Fo. Theater und Politik. Eine Monografie. Basis Verlag 
[22]  Der Statistiker Hans Rosling hat bereits 2018 in seinem posthum erschienenen Buch "Factfulness" herausgearbeitet, wie stark unsere Wahrnehmung gesellschaftlicher Phänomene von dem Wunsch nach negativen Deutungen bestimmt wird. Er nennt das den gesellschaftlichen "Instinkt der Negativität" (S. 63). Er sieht hier eine Wahrnehmungskluft, die dazu führt, Daten und Entwicklungen fundamental falsch zu interpretieren: "Es ist leicht, all die schlimmen Dinge auf der Welt zur Kenntnis zu nehmen. Schwieriger ist es, das Gute zu sehen: Über unzählige Verbesserungen wird nicht berichtet. (…) Ich rede von grundlegenden Verbesserungen (…), die aber zu langsam, zu fragmentiert oder für sich genommen zu wenig bedeutsam sind, um als berichtenswert eingestuft zu werden." (S. 63f.). In: Rosling, Hans (2018): Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, Ullstein.
[23] Vgl. dazu auch Mau, Steffen, Lux, Thomas & Westheuser, Linus (2023): Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp.
[24] Vgl. Föhl, Patrick & Künzel, Alexandra (2017): Abschlussbericht zur Kulturentwicklungsplanung der Landeshauptstadt Düsseldorf, Düsseldorf.
[25] Vgl. Rosling 2018.
[26] Vgl. exemplarisch: Eco, Umberto (1977/2020). Das offene Kunstwerk. Frankfurt/Main/Berlin: Suhrkamp.

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